Die einzige handschriftliche Ueberlieferuug beruht nur auf Wolters Chronicon archiepiscopatus Bremensis s. XV.; es mangeln uns daher nähere Anhaltspunkte, wie wir sie für B und V verwerten könnten. Formell ist die Urkunde ein meist wortgetreuer Auszug aus V, inhaltlich eine Combinierung von B und V, wobei die starke Betonung der urspünglichen Unterordnung Bremens unter Köln auffällt, welche Reminiscenz aufzuwärmen man in Bremen-Hamburg keinerlei Interesse hatte. Dies und die starke wörtliche Anlehnung an V macht mir gleich Lappenberg Verdener Ursprung für diese Fälschung wahrscheinlich. Lappenberg sah in ihr ein Vorstadium von V 1); ich möchte sie eher mit Mühlbacher für eine kaum gleichzeitig mit V sondern wahrscheinlich erst wesentlich später erfolgte Zusammenschweissung von B und V halten. Unser Recept ist in neuerer Zeit noch zweimal zu Fälschungszwecken verwertet worden. In den Jahren 1606-15 fälschte der Dortmundter Stadtschreiber Detmar Müller genau nach dem Bremer Muster eine Urkunde Karls d. Gr., in der dieser den Edlen Trutmann zum Grafen und Kirchenvogt im unterworfenen und christianisierten Sachsen ernennt. (Mühlbacher 294) Zweck der Fälschung war, das Bestehen der Stadt Dortmund, ihres Grafen und ihrer Vehme bis auf Karl d. Gr. zurückzuführen 2). Die Verdener Urkunde wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als Muster benützt, um das Kloster Beuron im Fürstenthum Hohenzollern zu einer Gründung des Grafen Gerold, des gefeierten Paladins Karls d. Gr., zu stempeln. Der Verdacht dieser Fälschung richtet sich gegen Rizenberger, der sie in seiner Commentatio inauguralis qua libertatem et immmedietatem antiquissimi collegii ordinis s. Augustini can. reg. congreg. Lateranensis ad s. Martinum Beuronensis in Suevia, Tübingen, 1771 zuerst veröffentlichte und mit verdächtichtiger Wärme für ihre Echtheit eintrat 3). 1) Hamburg. UB. 1, 7 A. 1. 2) Koppmann, in Forsch. z. deutsch. Gesch. 9, 607 ff. 3) Vgl. darüber Ziegler, Gesch. d. Kl. Beuron (Mittheil. d. Vereins f. Gesch. und Alterthumskunde in Hohenzollern 17, 134 ff. bes. S. 137. Lucia Visconti, König Heinrich IV. von England und Edmund von Kent. Von Karl Wenck. Ich beginne mit einem Bekenntnis: Lucia Visconti, die jüngste Tochter Bernabo's, ist für mich seit einigen Jahren eine Gestalt geworden von Fleisch und Blut, ein Wesen, dessen Empfindungen und Schicksale mich in Zwischenräumen immer wieder auf das Lebhafteste beschäftigt haben. Danach wird man es begreiflich finden, wenn ich zum zweiten Male im Laufe zweier Jahre ihr eine längere Abhandlung zu widmen wünsche, aber man wird geneigt sein, das wissenschaftliche Bedürfnis in Frage zu ziehen, nachdem vorher schon Giacinto Romano 2) die Räthsel von Lucia's Leben zu lösen sich bemüht hatte. Man wird sich versucht fühlen, anzunehmen, dass ich durch persönliche Sympathien, die ja unter Umständen auch aus den Pergamenten uns zufliegen können, verleitet sei, das Interesse des Gegenstandes zu überschätzen. Sollte ich mich durch die Besorgnis vor solchen Zweifeln bewegen lassen, die reichen Ergebnisse meiner letzten Studien im Pulte zu behalten? Aber es handelte sich doch keineswegs nur um die Schicksale eines Frauenherzens, das vielleicht als Typus einer neuen Epoche des Gefühlslebens gelten kann, sondern die Quellen, aus denen wir 1) Ich veröffentlichte 1895 im Neuen Archiv für sächs. Gesch. XVI, 1-42 die Abhandlung, eine mailändisch-thüringische Heirathsgeschichte aus der Zeit König Wenzels, die auf Wunsch des Verlegers unter demselben Titel auch als Buch erschien. Dresden, W. Baensch 1895. Ich citiere künftig Heirathsgeschichte. 2) Un matrimonio alla corte dei Visconti. Archivio stor. Lombardo XVIII (1891), 601. Lucia Visconti in einer Krise ihres Lebens kennen lernen, zwei Grupppen von Notariatsurkunden durchaus widersprechenden Inhalts verdienen um ihrer selbst willen Gegenstand eindringender Forschung zu werden. Ich meine, dass, wer sie liest, einmal recht mit Händen greifen könne, welch' grosse Bedeutung das Notariatswesen in dem Italien der Frührenaissance hatte. Man hat offenbar damals, als das Individuum zum Bewusstsein seiner selbst kam, als das Recht der Persönlichkeit gleichsam neu entdeckt wurde, ganz anders als früher getrachtet, die persönlichen Entschliessungen und Handlungen jeweils durch Notar und Zeugen zu beglaubigen. Unsere Urkunden führen uns unmittelbar ein in dieses Emporringen der Persönlichkeit, in den anfangs aussichtslosen Kampf eines Frauenherzens gegen Vergewaltigung des Willens. Die wichtigste Urkunde der einen Gruppe soll gewisse Empfindungen und Entschliessungen eines Mädchens, die ihr von einem Uebermächtigen, der doch den Schein zu wahren wünschte, auferlegt waren, als durchaus ursprünglich und freiwillig erscheinen lassen, die andere Gruppe bezeugt, dass nur Zwang und Furcht den Schein der Entschliessung hervorbrachte. Es lag nahe, diese einander widersprechenden Urkunden auf die psychologische Wahrscheinlichkeit ihrer Angaben zu prüfen. Das hatte Romano und habe ich mit entgegengesetztem Ergebnis gethan, und Romano hat dann trotz einiger Zugeständnisse sich nicht von meinen Ausführungen überzeugt erklärt. Er hält auch jetzt 1) daran fest, dass Lucia ganz ohne einen Zwang des Herzogs, ihres Schwagers, in die Vermählung mit dem Landgrafen Friedrich von Thüringen gewilligt habe, wie es die Urkunden von 1399 zu bezeugen scheinen. Den Urkunden von 1403, die mit aller Schroffheit das Gegentheil aussagen und den Anfang vom Ende der eigenthümlichen Ehe in absentia bilden, hat Romano den Glauben versagt. Wir haben aber beide mit der ausschliesslich psychologischen Erörterung des Inhalts der Urkunden eine Lücke gelassen. Diese Rechtsinstrumente mussten in erster Linie als solche, auf die juristische Tragweite ihrer Aussagen, geprüft werden. Als ich darauf ausgieng, habe ich überaus dankenswerte Unterstützung erhalten durch Herrn Dr. H. v. Voltelini, der aus seiner Kenntnis des italienischen Notariatswesens die fraglichen Urkunden prüfte und mir die lichtvollen Ergebnisse seiner tief eindringenden juristischen Würdigung brieflich mittheilte. Schon vorher hatte ich von anderer Seite Anregung erhalten, den Lebensschicksalen Lucia's auf's Neue nachzugehen. Sie sind eng verflochten mit den grossen politischen Wandlungen, die sich 1399 und 1400 in England und Deutschand vollzogen. Jene missglückte Ehe Lucia's mit dem Landgrafen von Thüringen sollte helfen den wankenden Thron König Wenzels zu stützen. Die Ehe Lucia's mit dem englischen Grafen Edmund von Kent, hervorgegangen, wie ich jetzt urkundlich bezeugen kann, aus der Initiative König Heinrichs IV. von England, der einst selbst um Lucia's Hand geworben hatte, war in ähnlicher Weise erdacht, um das aus der Revolution hervorgegangene Königthum Heinrichs IV. zu stärken. Diese englische Ehe Lucia's war für Romano in mysteriöses Dunkel gehüllt gewesen. Ich hatte aus englischen Quellen den Schleier ein wenig gelüftet, aber erst in Folge der Zuschriften einiger englischer Gelehrten 1), die meine Abhandlung gelesen hatten, wurde ich darauf geführt, dass über diese Ehe Lucia's noch ein reiches urkundliches Material vorhanden war, das mir allerdings leicht hatte entgehen können. Gleichzeitig ergab sich, dass auch die von mir geahnten älteren persönlichen Beziehungen Heinrichs von Derby (des späteren Heinrichs IV.) zum Mailänder Hofe interessante urkundliche Bestätigung fanden, und nun lag es nahe, den dynastischen Beziehungen zwischen England und Mailand gegen Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts überhaupt nachzugehen. Das musste um so lockender erscheinen, als dabei nicht nur die auswärtige Politik beider Mächte zu erörtern war, sondern auch die litterarischen Beziehungen, welche die italienische mit der englischen Renaissance verknüpfen, zur Sprache kommen mussten. 1) In seiner Recension der Heirathsgeschichte Archivio storico Lombardo, ser. 3, vol. 4 (1895), 483-96, Dient nun ferner die Untersuchung der thüringischen Heirat Lucia's, wie wir sie jetzt bieten, als das Werk Giangaleazzo's in besonderer Weise der Würdigung dieses hochbedeutenden ersten Herzogs von Mailand, den ich als Staatsmann genau ebenso hoch stelle, wie es Romano thut, während ich von dem Menschen Giangaleazzo eine wesentlich andere Anschauung habe, als Romano, so fallen von dem breiten und vollen Lichte, das sich jetzt auch über die englische Heirath Lucia's werfen lässt, starke Streifen auf die Persönlichkeit König Heinrichs IV. von England, und diese intimere Kenntnis seiner Eigenart ist um so erwünschter, als die merkwürdige Veränderung Heinrichs unter dem Einfluss seines Staatsstreiches und der beständigen Verschwörungen, die seine neue Krone gefährdeten, das psychologische Interesse des Forschers immer in hohem Grade erregen wird. 1. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen Italien und England sind im Mittelalter ziemlich einseitig gewesen. Denkbarst verschieden war 1) I. H. Wylie und J. Tait. die Stellung der beiden Länder im Welthandel, durch die heute ihr Verhältnis unter sich und zu den anderen Mächten entscheidend beeinflusst wird, von der gegenwärtigen, da Englands Handel im Mittelalter überwiegend passiv gewesen ist. Italienisches Geld und die von den italienischen Seestädten eingeführten Levanteproducte spielten auf dem englischen Markte eine grosse Rolle, während die englische Wolle die längste Zeit zur Verarbeitung nach Florenz und anderen Städten entführt wurde. Nur allzusehr passiv war England so manches Mal auch gegenüber der römischen Kurie, und wenn auf ihren Kreuzzügen englische Herrscher einmal Neigung bekamen, in die politischen Verhältnisse Italiens einzugreifen, so waren das Anwandlungen vorübergehender Art. Eine gewisse Gemeinschaft Englands und Italiens im Gegensatz zu Frankreich scheint von selbst gegeben, als nach dem Zusammenbrechen der Kaiserherrschaft in Italien der natürliche Ausdehnungstrieb des französischen Königreichs gleichzeitig den englischen Länderbesitz auf französischem Boden und die Unabhängigkeit der italienischen Mächte bedrohte. Unzweifelhaft hätten die italienischen Kleinfürsten Oberitaliens, in erster Linie die von Mailand, ein lebhaftes Interesse daran haben sollen, dass Frankreich im 14. und 15. Jahrhundert durch die Angriffspolitik Englands im hundertjährigen Kriege vielmehr genöthigt wurde, um seine Selbständigkeit zu ringen als auf Eroberungen ausgehen zu können, denn dieser Gestaltung der Dinge verdanken wir es nicht am wenigsten, dass die Wiederbelebung der Wissenschaften und Künste in Italien sich im wesentlichen ohne Störung durch fremdländische Invasionen hat vollziehen können. Und doch finden wir von einer Einsicht, dass die Schwächung Frankreichs der Vortheil Italiens sei, kaum eine Spur bei den italienischen Politikern jener Tage, und das darf uns nicht einmal befremden, wenn wir bedenken, wie in dem Italien der Renaissance das Interesse des kleinen Sonderstaates, mochte er von einem Tyrannen oder in republikanischen Formen geleitet sein, durchaus alle nationalen und kirchlichen Rücksichten in den Schatten stellte. Es hätte nahe gelegen, dass, als 1378 Europa sich in die Obedienz zweier Päpste schied, die Italiener fest und geschlossen mit England und dem Reiche zum römischen Papste gestanden hätten, wir sollten erwarten, dass sie die französischen Pläne, den Avignoneser Gegenpapst auf dem Wege der Gewalt, durch einen Feldzug nach Italien, zum alleinherrschenden Pontifex zu machen und zugleich durch die Festsetzung französischer Prinzen in Unter- und Mittelitalien die Hegemonie Frankreichs fest zu begründen, nur mit tiefstem Misstrauen betrachtet haben würden. Statt dessen finden wir bei dem hervorragendsten italienischen Staatsmann dieser |