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Die Einheiten des Ortes und der Zeit in den Trauerspielen Voltaires.

Qu'en un lieu, en un jour un seul fait accompli
Tienne jusqu'à la fin le théâtre rempli.
(Boileau, Art poétique, III).

Die Einheiten des Ortes und der Zeit, welche wir bei Voltaire, dem letzten der drei grossen französischen Tragiker, zu betrachten haben werden, befinden sich bei diesem Dichter schon sichtbar auf einer Stufe des Niedergangs. Ist aber auch das Ende der Regeln, wie diese beiden Einheiten kurzweg genannt wurden, nicht besonders rühmlich, so hatten sie doch eine glänzende Laufbahn und eine mehr als 100jährige ausschliessliche Herrschaft über das französische Theater hinter sich. Die oben angeführten Worte Boileaus bezeichnen scharf und knapp den Inhalt des geheiligsten Dogmas des klassischen Dramas der Franzosen: Ein Ort, Ein Tag, Eine Handlung. Die letzte dieser drei Forderungen hat auch noch heute Kraft und Geltung, sie ist, seitdem das moderne Theater die mittelalterliche Mysterienbühne überholt hat, nie bestritten worden und soll daher auch nicht in den Kreis der Betrachtung gezogen werden. Dagegen sind die beiden anderen Einheiten von grösster Wichtigkeit für den Unterschied unseres heutigen Theaters von dem klassisch-französischen, ja, sie haben sogar dem letzteren durch und durch den ihm eigentümlichen Charakter gegeben.

Die Eigenschaften des klassischen Dramas in Frankreich, wie sie sich unter der despotischen Herrschaft der Regeln ausbildeten, waren keineswegs Vorzüge, sondern beeinträchtigten stark den Wert der dramatischen Produktionen. Um zu begreifen, wie wenig die beiden Forderungen für das französische Theater am Platze waren, muss man erwägen, dass der Chor das wesentlichste, fast einzige Moment war, welches die Griechen zur Innehaltung der scheinbaren Stetigkeit der Handlung veranlasst hatte. Aus dem Chore heraus war die griechische Tragödie erwachsen, aber obschon er ihr Ausgangspunkt war, so wurde er Ztschr. f. frz. Spr. u. Litt. XXIII1.

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doch später in dem Masse, wie sich der Dialog entwickelte, mehr und mehr ein Beiwerk und schliesslich als lästig empfunden. So begegnen uns schon im Altertume Zeugnisse dafür, dass der Chor seiner eigentlichen Aufgabe entfremdet war, und als man gar in der Renaissance bei der Neuschaffung des klassischen Dramas auf diesen Stufen des Verfalls aufbaute, musste der Chor bald als lästige Beigabe fallen, um so mehr, als auf der modernen Bühne jeder geeignete Platz für ihn fehlte. Leider aber that man nur halbe Arbeit, indem man nach Beseitigung des Chors die nur durch ihn gerechtfertigten Einheiten bestehen liess. Infolge dieser Verkennung des Zusammenhanges zwischen Chor und Einheiten belud man sich mit einem Gesetze, welches für die französische Bühne zu einem lähmenden Hemmnis wurde.

So bannte die Einheit des Ortes die Handlung von Anfang bis zu Ende mit erdrückender Gewalt in die engen Grenzen eines und desselben Raumes und lähmte dadurch völlig die Beweglichkeit des Stückes. Dazu kam noch der Umstand, dass der eine Schauplatz in der grössten Mehrzahl der Tragödien ein Zimmer eines Palastes war, und dass also hier wegen des beschränkten Raumes und der stets sorgfältig beobachteten bienséance die meisten Vorgänge nur berichtet, nicht dargestellt werden konnten. Die Unveränderlichkeit des Schauplatzes musste auch insofern sehr nachteilig für den Eindruck des Stückes wirken, als der Zuschauer die Dinge nur von der einen Seite zu sehen bekam, während ihm das, was bei der anderen Partei vorging, nur erzählt wurde.

Ebenso nachteilig, wie die Einheit des Ortes, war die der Zeit für die Entwickelung der französischen Tragödie. Um die zur Wahrung der Zeiteinheit nötige Kürze und Gedrängtheit zu erlangen, mussten die Franzosen die Handlungen ihrer Tragödien so beschneiden, dass nur noch die Krisis übrig blieb. Infolgedessen finden wir bei dem klassischen französischen Theater nur wenig von dramatischer Entwickelung, keine naturgemässe, allmähliche Knotung oder Lösung der Handlung, sondern nur ihren Ausgang, die Katastrophe. Allerdings beschränkten sich auch die Griechen meist auf die dramatische Darstellung der Krisis, doch wurde bei ihnen dadurch der Mangel beseitigt, dass sie dem Zuschauer Trilogieen boten, welche als Ganzes genommen eine längere Entwickelung darstellten. Auch hier also erwies sich die für das alte Theater wohl passende Einheit der Zeit für französische Verhältnisse ganz unbrauchbar und geradezu schädlich. So konnten zum Beispiel Ereignisse, welche sich nicht am gleichen Tage wie die Katastrophe abspielten, auch wenn sie für das Verständnis des Stückes von höchster Wichtigkeit waren, nur berichtet, nicht dargestellt werden. Um die dadurch nötig gemachten Erzählungen und Expositionen passend unterzubringen, missbrauchte man, Seneca noch überbietend, in ausgiebiger Weise Vertraute, welche mit ihren Herren und Herrinnen wahre Dauerreden hielten, um den Zuschauer

über die Ereignisse vor der Krisis aufzuklären und ihm durch den Bericht der Handlungen den gänzlichen Mangel der Handlungen selbst zu ersetzen. Voltaire erwähnt diesen Fehler und noch einen anderen, welcher sich dabei einschlich, im 5. Briefe zum Edipe (Bd. I, S. 37)1): L'exposition du sujet se fait ordinairement à un personnage qui en est aussi bien informé que celui qui lui parle. On est obligé, pour mettre les auditeurs au fait, de faire dire aux principaux acteurs ce qu'ils ont dû vraisemblablement déjà dire mille fois.

Nachdem man die Handlung der Zeiteinheit zuliebe bis auf die eigentliche Krisis verkürzt hatte, kam man jedoch in die Verlegenheit, wie man mit einem so geringen Stoffe eine ganze Tragödie von 5 Akten füllen sollte. Als Ersatz für die hierbei entbehrte Handlung griff man zu dem völlig untragischen Mittel der Intrigue und erreichte so die gewünschte Länge. Voltaire gesteht selbst, wie er im Edipe die Handlung künstlich komplizieren musste, um die 5 Akte zu füllen (Bd. I, S. 38): A l'égard de l'amour de Jocaste et de Philoctete, jose encore dire que c'est un défaut nécessaire. Le sujet ne me fournissait rien par lui-même pour remplir les trois premiers actes, à peine même avais-je de la matière pour les deux derniers.

Zeit- und Ortseinheit thaten also in gleicher Weise das Ihrige, um die künstlerische Wirkung des Dramas abzuschwächen. Unter dem Drucke dieser Gesetze statt einer lebhaften, interessierenden Handlung dem Zuschauer nur endlose, ermüdende Reden bietend, blieb von dem Trauerspiel nicht viel mehr übrig, als eine dialogisierte Erzählung ohne dramatisches Leben. Man sah von der Komposition und der theatralischen Wirkung fast ganz ab, um alles Interesse dem Bau und Wohlklange schöner Verse zuzuwenden. Die Tragödie war unter dem Einflusse der beiden Einheiten ein völlig rhetorischmusikalisches Kunstwerk geworden.

Voltaire übernahm, wie seine ersten Tragödien zeigen, diese durch den Gebrauch und die Werke Corneilles und Racines geheiligte Form mit allen ihren Mängeln. Wie er aber auf so vielen Gebieten als Reformator und Vertreter einer fortschrittlichen Richtung auftrat, so deckte er auch hier alte Schäden schonungslos auf und arbeitete unaufhörlich an deren Beseitigung. Die Anregung dazu kam ihm auch in diesem Falle aus England, wo die Shakespearesche Bühne mit ihrer genialen Regellosigkeit einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Trotz des Stolzes auf das klassische Theater seines Landes, erkannte doch Voltaire die Vorzüge der Stücke des englischen Meisters und glaubte, das Wirkungsvolle und Packende derselben seinen eigenen Werken aufpfropfen zu können. Leider übersah er aber hierbei, dass dieser Versuch nur Erfolg haben konnte, wenn er die Beobachtung der Regeln aufgab, denn da diese, wie gezeigt

1) Die Citate erfolgen stets nach der Ausgabe Moland: Œuvres complètes de Voltaire (Paris 1877).

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