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aus ihnen heraus, was wahrhaft „actuel“ ist. Frankreich macht heute eine Zeit durch, in der die religiöse Frage auf das Heftigste die Gemüter bewegt. Die Probleme und Kämpfe, die uns bewegen und trennen, sie tragen augenscheinlich, so meint der Verfasser „une origine religieuse". Und darum suchen wir mit Eifer in den Werken der Vergangenheit den religiösen Grund, auf dem sie sich aufbauen. Unser Denken von heute mischt sich mit dem vergangenen, die alten Werke verschmelzen mit dem moralischen Leben unserer Tage, sie durchleuchten sich mit einem ganz neuen Licht, sie gewinnen erst jetzt ihren wahren Sinn, der Schauer des Lebens durchwallt sie von neuem. Der verehrte Meister des Verfassers der „Livres et questions d'aujourd'hui“, Ferdinand Brunetière, schärfte einmal in einer Vorlesung über die „Renaissance du Naturalisme" 1) seinen Schülern und Zuhörern ein: „Oui, faites-y bien attention, Messieurs: dans toutes les discussions d'art, qu'elles viennent à s'élever sur la valeur d'une toile ou sur celle d'une comédie, lorsque nous agitons la question de savoir si la manière de Titien est plus haute que celle de Rubens, ou pourquoi l'Andromaque de Racine est audessus de la Zaire de Voltaire, toujours, que nous le sachions ou non, nous en appelons, si je puis ainsi dire, à un tiers interlocuteur; et ce tiers c'est la nature! Quelle idée, ou, si vous le préférez, quelle sensation de la nature et de la vie les Vénus de Titien ou les nymphes de Rubens nous procurent-elles? Quel est le degré de vraisemblance ou de vérité de Pyrrhus et d'Andromaque, d'Oreste et d'Hermione, de Zaire, d'Orosmane, de Lusignan? Qu'expriment-ils d'humain? Par où sortent-ils peut-être de la nature pour entrer dans le domaine de la convention? C'est l'éternel problème... Also, faites-y bien attention, nur den Grad der künstlerischen Wiedergabe der Natur will da der vielgepriesene und geschmähte „Literaturpapst" Brunetière als Maßstab für die Einschätzung der Werke der Kunst und Dichtung gelten lassen. Das Verhältnis von Kunst und Natur ist ihm in Fragen des künstlerischen Schaffens das „ewige Problem". Wo bleibt da der Glaube? Herr Giraud wird vielleicht entgegnen, Brunetière fordere aber doch die Wiedergabe, den reinen Ausdruck des Menschlichen, und das Göttliche, die Sehnsucht nach dem Göttlichen, der Glaube sei ein Teil des Menschlichen, mache die Tiefe des Menschlichen aus. Sicherlich, ein menschliches Dasein, das stumpfsinnig in der niedrigen Enge brutaler Lebensinstinkte aufgeht, das keinen Augenblick innehält in seinem gierigen Zusammenraffen, um nachzudenken über den Sinn des Lebens, das sich nicht manchmal aufschwingt in ahnungsvollem Staunen und fragendem Erkennenwollen ist ein leeres Dasein, es fehlt ihm eine Sehnsucht und eine Inbrunst, die wir in dem vollkommenen mensch

1) in L'Evolution de la Poésie lyrique en France au dix-neuvième siècle. 3. Ausgabe. t. II p. 118.

lichen Wesen suchen. Aber ist diese Tiefe des Menschlichen immer der Glaube? Kann es nicht oft ein Verlangen nur nach Schönheit, ein Aufgehen in Harmonie sein, ein Wille nach Erkenntnis der rein physischen Lebensfunktionen sein, kann es nicht sein ein ideales Aufgehen im Dienste der Menschheit, ein selbstloses Kämpfen um den sozialen Fortschritt, ein Kämpfen, dem der Glaube an Göttliches mangelt? Ist nicht die Liebe ein Teil des Menschlichen, der gewaltig, tief und erhaben sein kann, ohne jede Beimischung des Glaubens? Und ist ein Mensch, der glaubt, besser und schöner veranlagt, als ein Mensch, der nicht glaubt, sondern auf Pfaden des Zweifels nach Wahrheit sucht?

In Kunst und Literatur ist wirklich überall in der Tiefe das Problem des Glaubens? Betrachtet man nicht, wenn man von einer solchen Voraussetzung ausgeht, die Geschichte der Kunst und Literatur unter einem schiefen Gesichtswinkel? Mir will scheinen, Herr Giraud tut Unrecht seinen Schülern einzureden, die ganze französische Literatur sei ein ununterbrochener Kampf zwischen Gläubigen und Ungläubigen, bei allen Schriftstellern sei die Frage nach ihrem religiösen Standpunkt aufzuwerfen. Es ist unrecht, seinen Schülern zu lehren: Polyeucte ist besser als Cid, Athalie besser als Phèdre, und wenn die Pensées den Maximes vollständig gleich wären, so wären sie doch noch besser; denn der religiöse Gedanke ist in ihnen wirksam.

Wenn Giraud recht hätte mit seiner Behauptung, die ganze französische Literatur sei ein ununterbrochener Kampf zwischen denen, die glauben und denen, die nicht glauben, so müßte die eine Hälfte der französischen Schriftsteller von religiöser Inspiration getragen sein, die andere Hälfte von unreligiöser oder einer anders gearteten religiösen Inspiration. Oder es müßten sich ganze Zeitalter in bewußtem religiösen Kampfe gegenüberstehen. Aber tatsächlich liegen die Dinge so, daß in den weitaus meisten Fällen die Dichter und Künstler zum Schaffen getrieben werden durch jenes eigentümliche, dichterisch-künstlerische Genie, durch jene tiefere und feinere Auffassung der Natur und des Menschlichen, durch jene geheimnisvolle Gabe des rein formalen Könnens. Sie schaffen aus sich heraus, nach ihren künstlerischen Idealen und je nach einer zu ihrem künstlerischen Genie hinzutretenden persönlichen Veranlagung, oder auch nach Einflüssen und Tendenzen, die in der Zeit, im Augenblicke liegen, nehmen sie teil an den religiösen Fragen, so wie es Laien und Priester und Forscher auch tun. Von einer durch die Jahrhunderte der französischen Geschichte hindurchgehenden religiösen Inspiration bei Schriftstellern und Künstlern, welche die erste und vornehmste Bedingung ihres Schaffens wäre, kann keine Rede sein. Natürlich ist das Problem des Glaubens da. Zeitweilig waltet es vor, wie wohl auch in anderer Zeit ein philosophisches System, das mit dem Glauben an sich nichts zu tun hat, die Gemüter beherrscht. Es mischt sich hinein in Fragen der Politik, des sozialen Fortschritts, der Kunst

und es kommt wohl vor, daß die Künstler die Einmischung des Glaubens in ihr freies Schaffen abwehren müssen.

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Es ist unrichtig zu behaupten, wie es Herr Giraud tut, daß das Verhältnis eines Ronsard, Leconte de Lisle, Racine, Augier, La Rochefoucauld, Vauvenargues, Balzac oder Flaubert zur Religion die allgemeine Richtung und Bedeutung ihres Werkes bestimmen. Es ist zum mindesten unnütz zu sagen: Wer sieht nicht ein, daß das Innerste von Leconte de Lisle's Poesie von Grund aus verändert wäre, wenn er Christ gewesen wäre." Nein, wir müssen uns damit abfinden, die Poesie ungläubiger Dichter lediglich nach den in ihr wohnenden, ihr eigentümlichen Werten zu beurteilen und dürfen nicht zum Vergleiche nach der Poesie des gläubigen Dichters hinüberschielen. Leconte de Lisle war ein Heide mitten in der Christenheit, Paul Verlaine zu Zeiten ein inbrünstiger, glaubensheißer Katholik und Bekenner. Wie kann man ihre Poesie miteinander vergleichen, indem man von der Religiosität ausgeht. Gewiß, man wird im Laufe einer vergleichenden Betrachtung auch von den religiösen Empfindungen des einen und der indisch - pessimistischen, griechisch-schönheitsuchenden Weltanschauung des andern sprechen müssen, und man wird von dem Einflusse dieser ihrer Gefühle Stimmungen und Überzeugungen auf ihre Werke handeln. Aber man wird, solange man unvoreingenommen bleibt und umfassend denkt, ihr Verhältnis zur Religion nicht als bestimmend für die „orientation générale et la signification de leur œuvre ansehen wollen. Tut man es doch, so betrachtet man eben die Literaturgeschichte unter einem falschen Gesichtswinkel.

Der Verfasser meint, wenn Ronsard an der Reformation teilgenommen hätte, dann hätte er den „Discours sur les misères de ce temps" nicht geschrieben, und sein Vers würde nicht diese „sonorité joyeuse" gehabt haben, die so stark mit der „,tristesse" des Stiles Calvins kontrastiert. Dem ist zu erwidern, daß Ronsard aus innerer Überzeugung, aus tiefer Religiosität die Reformation nicht abgelehnt hat, daß ihn lediglich das bequeme Festhalten an der Tradition leitete, nur sein künstlerisch-genießendes, etwas oberflächliches Dichtertum, die Scheu vor dem Eindringen in die Tiefe des Problems, die Furcht vor der Unruhe. Gründe bestimmten ihn also, die alles andere waren als der Glaube. Ich meine der wirkliche, überzeugte Glaube, nicht der gedankenlose, mitlaufende, unfreie Glaube des honnête homme". Nicht der Glaube jener braven, arbeitsamen, sparsamen Millionen der dunklen Masse, jener „Troisième France", in deren Schoß nach dem Glauben der Gläubigen die Kräfte der Zukunft liegen sollen, jener bedrohten Masse, auf der noch fest die schwere Hand der katholischen Kirche ruht. Ihren bequemen Glauben, den fort- und fortvererbten besaß auch Ronsard. Wäre sein König zu dem neuen Glauben übergetreten, so würde er ihm ohne Zweifel gefolgt sein. Und ob dann wirklich die „sonorité joyeuse" seines

Verses gelitten hätte, mag dahingestellt bleiben. Ich weiß einen Mann, der besaß sicher keinen tiefen Glauben, und er neigte ganz entschieden zur Reformation hin, und seine Prosa hallt dennoch wider von einer unvergleichlichen „sonorité joyeuse“ Rabelais.

Unsere Aufgabe liegt in anderer Richtung. Wenn wir im Laufe unserer Betrachtung eine Bewegung vorwiegend religiösen Geistes, eine Persönlichkeit von besonders religiöser Veranlagung finden, so werden wir dem religiösen Problem unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Wenn wir eine Zeit von besonders starken politischen Interessen erfüllt, oder von sozialen Tendenzen durchsetzt sehen, so werden wir alle diese einzelneu Faktoren, einen jeden für sich in seiner Bedeutung für den Stand und die Entwicklung von Kultur und Literatur zu würdigen haben. Wenn wir bei einem schaffenden Menschen erkennen, daß er lebt und schafft und Großes und Schönes leistet aus seinen rein künstlerischen Träumen und Visionen heraus, so werden wir versuchen in die Eigenart seiner künstlerischen Organisation einzudringen. Wir werden bei André Chénier mit ganz anderen ursprünglichen Qualitäten zu rechnen haben, als bei Chateaubriand. werden bei dem einen den sinnenfrohen, sinnlich-weichen Schönheitssinn bewundern und bei dem andern erstaunen über die großartige Einseitigkeit, die ihm die Kraft gab ein Erneuerer des religiösen Gefühls seines Jahrhunderts zu werden.

Wir

Wenn Giraud meint, der Grund für alle die Kämpfe, die Frankreich zur Zeit durchzumachen habe, sei religiöser Natur, so erfordert auch diese Formulierung des Gedankens eine kurze Auseinandersetzung. Wenn ich sage, daß eine Bewegung religiösen Ursprungs sei (Giraud schreibt „,origine foncièrement religieuse"), so will ich damit andeuten, diese Bewegung erhielt ihren Anstoß aus religiösen Motiven, tiefinnerliche Fragen über das Verhältnis des Menschen zu Gott erregten sie. So will es der Sprachgebrauch und der Sinn. Die heutige Bewegung in Frankreich aber, das schwerste und gefahrvollste Problem, das dieser Staat seit langer Zeit durchzukämpfen hat, ist gerade aus antireligiösen, oder besser gesagt, antikirchlichen Beweggründen hervorgegangen. Die Kirche aus sich heraus, aus inneren Stürmen und Gärungen heraus hat den Kampf nicht entfesselt. Wenn es auf sie allein angekommen wäre, gäbe es überhaupt keine religiöse Frage. Die Kirchenfeinde haben die Verwirrung erregt, gleichgültig, aus welchen Motiven, sicher nicht aus Motiven des Glaubens. Aus religiösen Gründen werden Religionskriege heraufbeschworen, Glaubenskämpfe, bei denen auf beiden Seiten etwa religiöser Fanatismus waltet und heiliger Eifer; aber ein solcher Religionskrieg, entstanden aus einer wirklichen „,origine religieuse" ist doch die „antiklerikale" Bewegung nicht. Das wirkliche, innere, persönliche religiöse Bedürfnis läßt sie geflissentlich außer Acht.

Daß andere Leute anders über das Vorhandensein religiösen Gehaltes in der Tiefe aller Probleme des kulturellen Lebens Frankreichs denken, lehrt ein Buch des unparteiischen Kritikers Emile Faguet „L'Anticlericalisme", ein Buch, mit dem sich Giraud in einem Aufsatz „Anticlericalisme et Catholicisme" auseinandersetzt. Der Leitgedanke von Faguets Buch ist die Behauptung, daß der Franzose von Grund aus unreligiös sei. „Le fond de la race française, la généralité des Français me semble toujours avoir été peu capable d'embrasser et d'entretenir l'esprit religieux et le sentiment religieux." Faguet will nur innerhalb des Meeres der Religionslosigkeit eine Reihe von Religionsinseln gelten lassen, nur einzelne Gruppen, die von starkem, aus Oppositionsgeist entstandenem und genährtem religiösen Sinn durchdrungen sind. Er berührt sich in dieser Auffassung mit einem Worte Victor Hugo's, das dieser in der Vorrede zu seinen „Odes et Ballades" im Jahre 1824 geschrieben hat. Hugo sagt von den Dichtern Frankreichs: „Ses poëtes nationaux étaient presque tous des poëtes païens; et notre littérature était plutôt l'expression d'une société idolâtre et démocratique que d'une société monarchique et chrétienne." Ich stimme mit dieser Behauptung V. Hugos nicht ganz überein, ich führe sie nur als interessantes Zeugnis gegen Girauds These an. Wie verhält sich Giraud zu dieser vielleicht übertriebenen Feststellung Faguets? Behauptet er seinerseits, daß der Franzose „essentiellement religieux" gesinnt ist? Er sagt es nicht, obwohl ihm diese Formel der Wahrheit näher zu kommen scheint, als die entgegengesetzte. Er überschlägt sich höchst gewandt und sagt: „le Français a, par nature, le goût et la passion même de l'apostolat." Der Franzose ist ein äußerst soziales Wesen; er kann nicht für sich allein leben und denken, er empfindet das lebhafteste Bedürfnis, seine Überzeugung auch anderen beizubringen. Er ist der geborene Apostel. Daß er sich so leicht zum Katholizismus bekehrt hat, kommt daher, daß er eine Art von innerem Zusammenhang fand zwischen seinen tiefsten Instinkten und einer Religion, die das Aposteltum zur vornehmsten ihrer Pflichten machte. Und diese Neigung Proselyten zu machen, ist so mächtig, daß sie selbst in der Brust des Ungläubigen noch bestehen bleibt. Quand le Français devient incrédule, son incrédulité a un caractère presque religieux." Weil wir diese Leidenschaft der Propaganda besitzen, ist bei uns die Frage der Religion stets à l'ordre du jour. Auf der Tagesordnung, meinetwegen, aber nicht im innersten Kern der Dinge.

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Die allgemeine Voraussetzung, unter der die Aufsätze Girauds geschrieben sind, die prinzipielle Erhebung des Glaubensproblems in den Mittelpunkt auch der literaturgeschichtlichen Erscheinungen, mußte von uns zurückgewiesen werden. Diese These widerspricht den tatsächlichen Verhältnissen und zwingt die historische Betrachtung in Bahnen, die ihr nicht ziemen. Ihre Anwendung in der Forschung 6

Ztschr. f. frz. Spr. u. Litt. XXXII 2.

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